Lars Gräßer: Es entstehen aber nicht nur ständig neue Formate, auch diejenigen, die auf Twitch aktiv sind, erzielen immer größere Reichweiten. Anders ist auch nicht zu erklären, dass Twitch-Größen mittlerweile in etablierten Medienformaten auftauchen, man denke nur an „Knossi“ Knossala bei Let’s dance. Der WDR hat „der Szene“ bereits eine umfangreichere Dokumentation in der Reihe „Menschen hautnah“ gewidmet: „Off-Cam: So ticken deutsche Twitch-Stars“ (9/2023).
Gibt es hier Parallelen zu YouTube, der anderen großen Bewegtbild-Plattform für Jugendlichen – neben TikTok?
LG: Die gibt es, ohne Zweifel. In der erwähnten Dokumentation etwa ist einer der Protagonisten LeFloid aka Florian Mundt, der 2014 mit seinem YouTube-Kanal bereits für den Grimme Online Award nominiert war – und am Ende den Publikumspreis gewinnen konnte. Eine andere Größe auf Twitch ist Gronkh, der lange Jahre einer der reichweitenstärksten YouTuber war. Aber auch abseits der Menschen vor der Kamera gibt es Ähnlichkeiten zu YouTube, etwa bei den Vermarktern hinter der Kamera: den Netzwerken.
Interessant sind aber auch die (jungen) Frauen, die auf Twitch unterwegs sind: Zu nennen sind hier Antonia Stack, alias RevetTV, die erste Frau in Deutschland mit etwa einer Milllion Follower*innen, Anissa Baddour, alias Anni The Duck, oder auch Jasmin Sibel, bekannt als Gnu. Interessant sind sie vor allem deshalb, weil sie für eine gewisse Vielfalt an Inhalten sorgen, die neben Videospielen auch regelmäßige Sport-Streams umfasst und anderes mehr. Ganz ähnlich Pia Scholz, alias Shurjoka, die einen Podcast mit Anni The Duck produziert und auch in der oben erwähnten Dokumentation portraitiert wird.
MG: Uns interessierte auch, wie auf die Twitch-Stars geblickt bzw. wie mit ihnen interagiert wird. Sie streamen nicht nur, sondern zeigen ihre Reaktionen auch in anderen Bewegtbild-Formaten, plaudern über ihr Leben, aktuelle Themen und zeigen ihren Alltag. Dabei fordern sie ihre Rezipient*innen auf, zu kommentieren, Fragen zu stellen und oder neue Themen vorzuschlagen. Und je öfter eine Person mit den Streamenden interagiert, wird es auch persönlicher. So werden einzelne Personen individuell begrüßt, einzelne Fragen beantwortet, so dass User Persönliches über ihren „Star“ erfahren. Es kommt hinzu, dass viele Twitch-Größen auch regelrechte Sendezeiten haben, wann sie wieder streamen und annoncieren, welche Formate anstehen, so dass die Menschen vor den Bildschirmen eine Beziehung zu ihnen aufbauen – eine parasoziale Beziehung, die eher einseitig ist, aber für die Person vor dem Bildschirm von starker Bedeutung sein kann.
YouTube war ein bisschen auch als Alternative zum linearen Bewegtbildprogramm gestartet – um ihm am Ende immer ähnlicher zu werden. Ist das auf Twitch übertragbar?
LG: Denke schon. Während die einen noch davon träumen, wie im Fernsehen offline zu produzieren und dann Live-on-Tape auszustrahlen, machen es andere vor: ‚Sender‘ wie RocketBeansTV – hervorgegangen aus einem TV-Format bzw. einem YouTube-Kanal und parallel aktiv auf Twitch – produzieren bereits regelmäßige Inhalte für Twitch, veröffentlicht mit einer Sendeliste, ganz ähnlich der bereits erwähnte LeFloid, der mit zwei Freunden als DoktorFroid auf Twitch aktiv ist.
Jüngst gestartet (1/2024) ist etwa „Politik & wir – Der Community Talk“ vom Rundfunk Berlin Brandenburg (im Kanal der ARD, die auf Twitch eine eigene Präsenz „betreibt“). Dreimal im Monat können User mit politisch Verantwortlichen hier in den direkten Austausch gehen, wofür zwei Stunden zur Verfügung stehen, um mit Betroffenen, Politiker*innen und Expert*innen über ein aktuelles, relevantes Thema zu diskutieren.
Wie lässt sich gerade mit jüngeren Zielgruppen zu Twitch arbeiten?
MG: Jugendarbeiter*innen kommunizieren im Alltag sehr häufig über die Lebenswelt ihrer Zielgruppe. Um mit „ihren Jugendlichen“ über digitale Formate ins Gespräch zu kommen, müssen sie aber nicht jede Plattform und jedes Format kennen, sondern da reicht es erstmal, interessierte Fragen zu stellen, sich bestimmte Formate erklären zu lassen und die jugendliche Meinung zu erkunden. Oft ergeben sich so schon informative Gespräche und Diskussionen über Werte, Meinungen und Haltungen.
Darüber hinaus können Fachkräfte im Sinne der „plattformen-sensitiven Medienpädagogik“ über die Plattform, ihren Möglichkeiten und Herausforderungen ins Gespräch gehen. Genauso wie bei anderen Formaten von Bewegtbildern können die Protagonist*innen entschlüsselt, ihre „Karriereverläufe“ erforscht sowie ihre Statements und ihr mögliches Konfliktagieren erkundet werden.